MetaSmile
Rapport ist (fast) alles!
Frau G. ist eben erst erwacht. Der Pflegende bringt ihr das Morgenessen ans Bett. „Haben Sie gut geschlafen Frau G.?“ – „Das war sonderbar“, meint Frau G. - „Schauen Sie nur, Frau G., wie die Sonne scheint! - „Ja, dort in der Ecke, dort steht sie!“
Geistig verwirrte Menschen leben in einer anderen, für uns „Normale“ oft unverständlichen Welt. Fast alles, worauf wir uns in den Alltagsgesprächen beziehen können (Orte, Zeiten, kausale Zusammenhänge…), ist ver-rückt. Unsere herkömmlichen Mittel zur Pflege eines Kontaktes funktionieren nicht. Beziehungen werden unter diesen Umständen oft reduziert oder gar abgebrochen. Und auch Pflegende beschränken nachweisbar ihre Präsenzzeit bei BewohnerInnen mit fortgeschrittener Demenz auf das absolut Notwendige.
Mit dem Ziel, der Vereinsamung Geistesverwirrter entgegenzuwirken und die Kompetenz der Pflegenden im Umgang mit Demenz zu stärken, bin ich von der Heimstätte Bärau – in der ich als Seelsorger arbeite – beauftragt worden, im Bereich „Psychogeriatrie“ eine interne Weiterbildung durchzuführen. Die Grundwerkzeuge des NLP sollten bei Bewährung im Praxistest zum Standard in der Arbeit mit Demenz werden.
Da hatte ich also einen überaus spannenden Auftrag und ebenso viel Nervenflattern. Funktioniert NLP auch im „Meer der Ver-rücktheit“? Die Metapher habe ich auf einem Kongress aufgelesen und in die Weiterbildung mitgenommen. Mit etwas Angst vor den Untiefen und der Gefahr, Schiffbruch zu erleiden, jedoch mit noch mehr Neugier auf das Unbekannte und auch mit etwas Abenteuerlust stechen wir in See, bzw. in das Trainingsunternehmen.
Der erste Teil ist der Wahrnehmung gewidmet. Wie viele Informationen über Zustände und Veränderungen bei BewohnerInnen erhalten wir allein durch genaues Hinsehen, Hören, Fühlen und Riechen? Allein schon genaues, bewusstes Wahrnehmen bringt Verhaltensänderungen mit sich und wirkt therapeutisch. Die Submodalitäten erweisen sich dabei als hilfreiches Werkzeug in der verfeinerten Wahrnehmung und im Austausch der Informationen.
Im zweiten Schritt experimentieren wir mit allen möglichen Formen, Rapport aufzunehmen, zu halten, zu brechen oder in Leading weiterzuführen. Was ich im NLP-Training gelernt habe, wird hier zum Ausgangspunkt für Neuentdeckungen. Was bedeutet Rapport mit Verwirrten auf der Ebene der Umgebung? Meist sind die Pflegestationen nach allen Kriterien der Normalität eingerichtet: eine grosse Uhr, Kalender, Einsatzpläne, Menupläne, Agenden der Veranstaltungen und Aktivitäten gehören zur Grundausstattung jeder Abteilung. Symbole der Normalität, an denen die Verwirrten wie an Klippen auflaufen.
Herr H. fragt alle 5 Minuten: „Wie spät ist es denn jetzt“ – Antwort eines „Normalen“: „Es ist vier, schauen Sie nur auf die Uhr direkt über Ihnen?“ – Verständnislos dreht Herr H. ab, um eine andere Person zu fragen.
Wenn Rapport bedeutet, in den Schuhen des anderen zu gehen, in seine Welt einzusteigen, dann sind wir gefordert, als Festlandbewohner ins Meer der Verrücktheit einzutauchen. Also eine Welt zu verlassen, die von Ordnung, Logik, Zielgerichtetheit, Zweckmässigkeit und Funktionalität bestimmt ist. Wir phantasieren Möglichkeiten: ein gerader, metallener, funktionaler Handlauf wird unterbrochen durch eine gestrickte, farbige Wuschelschlange. Eine leere Tasche wird dazugehängt, in die Sachen hineingesteckt oder herausgeklaubt werden können. In das Badezimmer wird eine Palme gestellt und Sand hereingekarrt. Symbolisch entsteht eine neue Welt. Weg vom funktionalen Waschvorgang hin zu Verweilen und Geniessen der Elemente und des Augenblicks.
In einer Ecke liegen und sitzen Plüschtiere und Puppen in einer Kiste. Nicht (nur) für die BewohnerInnen, sondern für Besuchende und Pflegende. Rapport ist anders, wenn ich Frau F., die nie ohne ihre Puppe unterwegs ist, ebenfalls mit einer Puppe oder einem Plüschbär begegne.
Wer als Festlandbewohner ins Meer vor dringt, braucht Tauchhilfen oder ein starkes Gummiboot, in das er sich immer wieder retten kann. Vom NLP her reden wir von Ankern und nutzen alles, was wir über sie wissen um erneut zu phantasieren: Entspannungsmusik -statt DRS3- könnte die Mitarbeitenden darin unterstützen, sich auf einen Menschen mit anderem Rhythmus einzulassen. Ein Liegestuhl, auf den ich mich zurückziehen könnte, ohne aus der Abteilung fliehen zu müssen. Der Eingangsbereich liesse sich so gestalten, dass symbolhaft ausgedrückt wird: Sie verlassen die Welt des „Normalen“ und lassen sich ein auf eine Welt, in der ein anders Zeitgefühl herrscht, andere Werte gelten, Sinnlichkeit einen hohen Stellenwert hat, sich berühren und beschnuppern angebracht ist, Kommunikation auch durch gemeinsames Brabbeln oder Summen wunderbar funktioniert.
Die Weiterbildung ist noch nicht abgeschlossen. Rapport auf der Werteebene steht als ein nächstes Thema an. Herr D. liegt öfters mitten im Aufenthaltsraum am Boden. Dort fühlt er sich wohl. Durch das Hinlegen einer Matratze wurde ausgedrückt, dass dieses Verhalten o.k. ist. Doch noch nie hat sich eine Pflegeperson dazugelegt und Rapport aufgenommen. Das Training geht weiter und gleicht einer Werkstatt. Doch schon jetzt steht fest, dass NLP auch im Meer der Verrücktheit neue Wege öffnet.
Hansueli Minder, 48 jg., verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern, Theologe und Erwachsenenbildner. Seit 10 Jahren Heimseelsorger und seit 2 Jahren auch Coach in der Teamentwicklung in der Heimstätte Bärau. Von 1996 anberufsbegleitende Fortbildung an der NLP-Akademie zum Erwachsenenbildner NLP / dipl. Ausbilder.
Die Heimstätte ist ein grosses, regionales Heim im Kanton Bern, das 380 älteren oder behinderten Erwachsenen einen Lebensraum anbietet mit Wohn-, Arbeits-, Beschäftigungs- und Freizeitmöglichkeiten. In der Heimstätte arbeiten rund 250 Personen.