Es war einmal ...
Es war einmal ein Buch mit dem Titel „NLP in der Coaching–Praxis“ von Heidrun Vössing. Dieses Buch hatte ich mir für die persönliche Betrachtung ausgesucht, und zwar auf Grund zweier Merkmale:
- zum einen ist das Buch ‚dünn’ (das heisst es hat wenige Seiten), und so dachte ich, dass es aus zeitökonomischen Gründen für eine Betrachtung geeignet ist (ich habe einige andere NLP-Bücher gelesen; den zeitlichen Aufwand für ein ‚dickes’ Buch hätte ich aber vielleicht nicht leisten können)
- zum anderen ist die Autorin wie ich wingwave-Coach, und da spielte wohl die Sinn- & Zugehörigkeits- Gestaltungsebene eine Rolle ...
Während ich das Buch ein erstes Mal durchlas, hatte ich immer mal wieder ein Gefühl von ‚dünn’, und es war mir nicht so klar wo das herkam. Für ein zweites Durchlesen musste ich mich richtiggehend ‚überwinden’, und besonders in den einleitenden Kapiteln (Themen und Anlässe im Coaching / Merkmale von Coaching / Kompetenzen/Haltung/Rolle des Coaches) fühlte ich oft dieses ‚dünn’, weil sehr allgemein gehaltene, fast oberflächliche Betrachtungen und Gedanken zu Coach und Coaching angestellt werden. Und weil auch manche Textstellen dem Untertitel des Buches ‚Ein praxisorientiertes Arbeitsbuch für Coaches’ m.E. nicht gerecht werden. Ich fragte mich: richtet sich dieses Buch an ‚Anfänger’ im Sinne einer Einführung in Coaching und NLP, oder richtet es sich an erfahrene Coaches? Manche Passagen machen mir weder für die eine noch für die andere Zielgruppe ‚Sinn’. Dazu drei Beispiele:
- Die Ausführungen darüber, dass der Coach über methodische, soziale und systemische Kompetenzen verfügen muss, sind etwas mehr als 1 Buchseite lang (S. 27f). Diesem Aspekt würde ich aus meiner Sicht quantitativ und qualitativ mehr Gewicht geben, vor allem für ‚Beginners’. Analog dazu greifen die Ausführungen über die Meta-Ebene und den theoretischen Rahmen von Coaching (S. 88) m.E. zu kurz - dies aus der Perspektive des Integrativen Gestalttherapeuten, der den Einbezug von Kenntnissen etwa aus Anthropologie, Ontologie, Gesellschaftstheorie, Ethik, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie als notwendige Voraussetzungen für ‚Menschenarbeit’ betrachtet.
- In Bezug auf ‚verdeckte Aufträge’ im Coaching (S. 48ff) würdigt der Hinweis, dass „unbewusste Motive, Glaubenssätze und Beziehungsmuster eine grosse Rolle“ spielen und als „sekundärer Prozess oder Parallelprozess“ (S. 48) in den Coaching-Prozess hineinwirken, mitnichten die grosse Wirkkraft von Phänomen in zwischenmenschlichen (und v.a. ‚helfenden’) Beziehungen wie z.B. Übertragung, Gegenübertragung, Projektion. Für einen erfahrenen Coach oder Berater ist ein Hinweis in dieser Form salopp formuliert ‚kalter Kaffee’, und einem Coach ohne Erfahrung wird dieser insofern wenig nutzen, weil er sich Kompetenzen aneignen muss, um diese Phänomene erkennen und professionell steuern zu können. Zumal die Tipps zum Umgang mit verdeckten Aufträgen auf S. 49 („Bleiben Sie in einem ressourcevollen Zustand (...)“, „Versuchen Sie die positive Absicht hinter dem Verhalten zu erkennen (...)“ zwar ‚schön’ und NLP-analog tönen, mir ‚substanziell’ aber nicht genügen. Auch für eine andere Stelle (S.130: „Rückschläge auf dem Weg zum Ziel“ / Umgang mit Stagnation und Rückschritt im Prozess resp. mit mangelndem Rapport) gilt dieser Einwand.
- Falls im Coaching „Confusion“ herrschen sollte (Nebelwand, mangelnde Klarheit), rät die Autorin: „Hilfreich ist es, als Coach die eigene Wahrnehmung zu schärfen und besonders auf nonverbale Hinweise des Klienten zu achten, um zusätzliche Informationen zu erhalten.“ (S. 55) Hier gilt der gleiche Kommentar wie oben, auch hier hätte ich mir entweder den Verzicht auf einen solch ‚lapidaren’ Kommentar oder ein vertieftes Eingehen auf die Thematik gewünscht (welche Hinweise? Was tun damit? etc.).
Nun, ich merke, dass diese kritischen Ausführungen bereits eine Seite füllen, und ich erkenne mich dabei als ‚strenger’ Kritiker wieder, dieser Teil ist mir bekannt ... Irgendwann hatte ich mich dann auch an den Satz erinnert: „Offenheit und Skepsis, das sind die beiden Flügel, die beim Lernen Gewinn bringen“ (Practitionerhandbuch S. 11). Mit diesem Satz im Kopf und mit fortschreitender Lektüre des Buches (oder umgekehrt?) wurden mir dessen Inhalte zunehmend spannend, interessant und lehrreich.
„NLP in der Coaching-Praxis“ orientiert sich im weiteren Aufbau (nach den oben genannten einleitenden Kapiteln) primär an der Meta-Ebene von Coaching (Prozessphasen und Struktur, analog zu NLP = den Prozess fokussierend) und nimmt sporadisch Bezug zu Inhalten oder möglichen Interventionen, ohne jedoch die Palette von NLP-Interventionsformaten vollumfänglich abzubilden oder aufzuzählen. Es gliedert sich so im Hauptteil in die Kapitel: Startphase / Klärung der Ist-Situation / Ziele bestimmen / Veränderung gestalten und Lösungen entwickeln / Abschlussphase. Jede Phase wird dabei mit kurzer Einführung, Mini-Ratgeber, Toolbox, ‚Klippen’ (mögliche Schwierigkeiten) sowie weiteren Unterkapiteln behandelt und mit Beispielen aus der Praxis veranschaulicht.
Als besonders wertvolle und hilfreiche Impulse für die Theorie (Wissen, Haltung, Hintergrund) und Praxis (Interventionen, Techniken) meiner Tätigkeit als Coach möchte ich hier nennen:
- Die mit den Gestaltungsebenen differenziert dargestellte(n) Rolle(n) des Coach (S. 34)
- Tipps zur Auftragsklärung und Zielbestimmung im Coaching mit Hilfe präzisierender Metamodell-Fragen (S. 46f) und der Einsatz weiterer Fragetechniken (S. 71ff)
- Die ausführliche Darstellung der ‚Sechs Hürden auf dem Weg zum Ziel im Coaching’ (Confusion, Comparison, Catastrophe, Conflicts, Context, Conviction, S.54ff)
- Die anschaulich dargestellte ‚Meta-Map-Intervention’ (S. 62f), die ich sofort in der Praxis erfolgreich anwenden konnte
- Praktische Arbeitsblätter z.B. bei Zweifeln oder negativen Beliefs (S. 68) oder zur Zielbestimmung (S. 86), die ich in meine persönliche ‚Toolbox’ aufgenommen habe
- Verschiedene Tools und NLP-Techniken zur Gestaltung der Veränderungsphase (S. 88ff)
- Milton-Vorschläge für die Abschlussphase (S. 136f)
- „Umwege erhöhen die Ortskenntnis“ (S. 79) - eine rhetorische Perle, die einen Platz in meiner Zitatensammlung erhalten hat.
Und wenn sie nicht gestorben sind ...
Und wenn ich nur meinen ‚skeptischen Teil’ kultiviert hätte, würde ich das Buch heute noch nur kritisieren, aber da ich meinen ‚offenen und neugierigen Teil’ mit dazu nehmen konnte, ist es mir doch eine wertvolle und gewinnbringende Lektüre geworden. Wenn ich noch einmal eine Betrachtung schreiben müsste, würde ich mir – in den Ausführungen zu ‚Meta-Programmen’ blätternd – vielleicht ein anderes Buch aussuchen und zur Auswahl den ‚mismatch-Vergleichsmodus’ anwenden (vgl. mein Auswahl-Merkmal ‚wingwave’) Man lernt ja schliesslich nie aus.
Buchbesprechung von Roger Marquardt
Literatur / Buchempfehlungen
NLP in der Coaching-Praxis - ein praxisorientiertes Arbeitsbuch für Coaches
Heidrun Voessing | secondhand
Letzte Bearbeitung am 19.02.2013