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Was ich noch zu sagen hätte..
Wie man sich gegenseitig vergeben kann, auch wenn noch nicht alles gesagt ist.
Artikel basiert auf einem Erstabdruck im Praxis Kommunikation 06/2016
Ein halbes Jahr, nachdem meine Mutter
an Krebs gestorben war, hat sich mein Vater erschossen.
Das ist gut zehn Jahre her. Wir hatten alle geglaubt, dass er mit 80 Jahren sein Leben noch einmal in die eigenen Hände nehmen würde, aber wir täuschten uns. Ich war so wütend auf ihn, dass ich seinen toten Körper fast eine Stunde lang anschrie, als ich mich mit meinen Brüdern von ihm verabschiedete. Da hat man einem wichtigen Menschen in seinem Leben noch etwas zu sagen. Und dann ist der einfach weg. Ich wusste nicht, wohin damit. Ich habe mich daraufhin in die Literatur eingelesen und ein Format entwickelt, das ich vielfach getestet habe.
Aus dem tibetischen Totenbuch
Sogyal Rinpoche geht davon aus, dass wir einem Verstorbenen den Weg in sein Leben nach dem Tode erleichtern können. Die Tibeter nehmen sich dafür 49 Tage Zeit. Wichtig sei dabei, schreibt Sogyal Rinpoche, dass wir die gegenseitige emotionale Verknüpfung lösen, damit wir selbst frei weiterleben könnten und auch die Verstorbenen die Bindung an ihr vergangenes Leben verlieren.
Die tibetische Tradition schlägt deshalb vor, das, was wir dem Verstorbenen noch zu sagen haben, in einer Art Rollenspiel tatsächlich mitzuteilen.
Rollenspiel mit dem Abwesenden
Wir können uns vorstellen, der Verstorbene wäre mit uns im Raum, und dann sagen wir ihm, was noch zu sagen ist. Wir nehmen danach den Platz des Verstorbenen ein, lassen auf uns wirken, was wir gerade gesagt haben, fühlen uns in den Verstorbenen hinein und antworten. Das machen wir so lange, bis wir in beiden Rollen ein gutes Gefühl haben. Dann verabschieden wir uns. Ich habe einen solchen Austausch mit meinem Vater durchgespielt und es hat mich sehr erleichtert.
Einige Jahre später traf ich eine Frau, der es mit einer stark erweiterten Version dieser Übung gelang, sich endgültig von ihrem Vater zu verabschieden. Und es gelang ihr damit auch, sich aus der Depression, in die sie durch den Tod ihres Vaters gefallen war, zu befreien.
Ich habe versagt!
Jennifer war IT-Architektin in einer Grossbank in London. Sie erzählte mir in der West Lodge Park Mansion, in der Nähe von Enfield, folgende Geschichte:
„Vor drei Jahren erkrankte mein Vater an Krebs. Meine Mutter starb schon vor über zehn Jahren nach einem Verkehrsunfall, und seitdem lebte mein Vater bei uns im Gartenpavillon. Mein Mann hatte von seinen Eltern eine Villa mit Park geerbt und mein Vater kümmerte sich liebevoll um den Garten. Als die Ärzte sagten, dass er nicht mehr lange zu leben habe, entschlossen wir uns, ihn nicht in eine Palliativ-Klinik zu geben, sondern ihn bei uns zu Hause im Sterben zu begleiten. Mein Mann, meine drei Söhne und ich haben uns diese Arbeit geteilt, und ich habe viele wunderbare Stunden mit meinem Vater erlebt.
Nun war es leider so, dass ich in meinem Job zu der Zeit ein IT-Projekt starten musste und ich konnte immer weniger Zeit mit ihm verbringen. Sehr viel von dem, was ich ihm noch sagen wollte, blieb ungesagt und es trat dann das ein, was ich heute als totales Versagen meinerseits interpretiere: Mein Vater starb, als ich in der Firma war! Ich habe mir schwerste Vorwürfe gemacht und wurde depressiv. Mein Arzt hat mir Medikamente verschrieben und ich bin nun aus dem Gröbsten raus. Trotzdem arbeitet mein Versagen immer noch in mir. Wenn Sie mir helfen könnten, da rauszukommen, wäre ich Ihnen sehr dankbar!“
Photo by Sascha Berner on Unsplash
Den Abwesenden im Raum materialisieren
Als Erstes habe ich Jennifer gebeten, sich vorzustellen, wo im Raum ihr Vater wäre, wenn er jetzt energetisch da wäre. Wichtig war mir dabei, dass sie versucht, eine vermutlich nicht bewusste Materialisierung ihres Vaters aufzubauen. Wobei Grösse, Aussehen usw. nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen müssen.
Jennifers Vater war lebensgross, schaute sie an und stand etwa einen halben Meter rechts von ihr. Er war so gross wie sie und sie schauten sich an. Ich bat Jennifer, in die „3rd position“ zu gehen, das heisst, sich selbst und auch ihren Vater von einem Beobachterposten aus zu betrachten. Damit diese Position wie auch ihre eigene (1st position) und die des Vaters (2nd position) stabil blieben, markierten wir sie am Boden. Um sicherzugehen, dass sie sich nun wirklich „draussen“, auf der 3. Position, befand, bat ich sie um eine Aussage über die Grösse ihres Vaters: War er kleiner, gleich oder grösser als lebensgross? Diese Frage kann nur beantworten, wer nicht mehr assoziiert ist, also sich nicht mehr in der 1. oder 2. Position befindet!
„Jenny, nun spüre bitte in dich, schau deinen Vater an und sag ihm, was du ihm noch zu sagen hast!“ Jennifer ging in die 1. Position und sprach mit ihrem Vater Paul. Sie weinte dabei und es dauerte über 30 Minuten, bis sie ihm alles, was sie ihm noch sagen wollte, gesagt hatte. „Nun komm bitte wieder raus, sieh dich und deinen Vater von aussen, nimm dann die Position deines Vaters ein, höre, was Jenny dir zu sagen hat, und gib, wenn nötig, eine Antwort.“ Jenny spürte als Paul den Worten nach, die Jenny gesagt hatte, und antwortete ihr. Danach sollte sie sich wieder in die 1. Position begeben und spüren, wie das bei ihr ankam. Und notfalls etwas erwidern. Auf den unterschiedlichen Positionen tauschte sie sich mit ihrem Vater über 20 Minuten aus, bis alles gesagt war. Anschliessend bat ich Jenny, sich auf beiden Positionen jeweils beim anderen für die gemeinsam verbrachte Lebenszeit zu bedanken.
„Jenny, wie fühlst du dich jetzt?“ „Erleichtert und viel, viel besser.“ „Und Paul?“ „Ebenso! Ich fragte sie, ob der Abstand zwischen ihr und ihrem Vater immer noch stimmt. Sie stellte fest, dass der Vater sich etwas entfernt hat und dass dieses „Gehen“ beide erleichtere. „Was hält euch beide nun davon ab, diese Erleichterung zu vollenden, so dass ihr euch beide vollständig gehen lassen könnt?“
Photo by joseph marrufo on Unsplash
Den Menschen gehen lassen
Jennifer stellte fest, dass es bei ihr die Fürsorge ist: Sie fühlt sich nach wie vor für ihren Vater verantwortlich. Bei Paul war es „Sicherheit“. Er hatte Angst vor dem, was nun kommen würde. In diesem Schritt habe ich die positiven Absichten der beiden herausgearbeitet, das Motiv, das beide anleitet, so zu handeln, wie sie handeln. Im nächsten Schritt nach den logischen Ebenen von Robert Dilts suchten wir Ressourcen auf der Identitätsebene. Ich fragte Jennifer, welche Charaktereigenschaften sie und Paul gebrauchen könnten, damit sich die positiven Absichten noch besser erfüllen und sie sich ausserdem auch gegenseitig loslassen könnten. Bei Paul waren es Mut, Zuversicht und Kraft. Bei Jenny waren es Vergebung, Vertrauen und Selbstverantwortung.
Ich bat Jenny, Momente in ihrem Leben zu finden, in denen sie diese Ressourcen ganz intensiv wahrgenommen hatte, je einen Moment für jede Ressource. Ich bat sie, sich voll in diese Momente hinein zu assoziieren und mit den dort erlebten Gefühlen sich zuerst mit der „Gestalt“ ihres Selbst und dann mit der ihres Vaters zu verschmelzen. Zuerst bei sich selbst, dann bei ihrem Vater.
Die Ressourcen liegen im Menschen selber
Wir bestimmten abermals die Ressourcen, in welchen Jennifer ihre positive Absicht gegenüber Paul (Fürsorge), seine gegenüber ihr (Sicherheit) und ebenfalls die der Grossmutter (Freiheit) noch besser erfüllen konnte. Tatsächlich bewegte sich Paul danach weiter weg und nach oben, bis er fast am gleichen Ort schwebte wie die Grossmutter, und Jennifer fühlte Dankbarkeit dafür, was sie von ihrem Vater hatte lernen dürfen. Ich testete dieses neue System ihres Panoramas noch aus der 4. Position, gewissermassen von einem höheren Standort aus, an dem wir das gesamte System betrachten können, in dem wir dissoziiert von allen Rollen sind und assoziiert mit dem grossen Ganzen. Auch da war alles okay.
Nach etwa drei Wochen war die Depression vollständig verschwunden, und der Arzt konnte Jennifer als geheilt aus seiner Therapie entlassen. In der Folge habe ich dieses Format noch viele Male angewendet und lehre es mittlerweile auch. Meine Mandanten konnten damit immer den Knoten der gegenseitigen Verwicklungen lösen. Vermutlich ist die Kombination aus NLP, der Technik aus der tibetischen Tradition und dem sozialen Panorama von Lucas Derks besonders effizient.
Ich habe das Format übrigens auch bei mir und meinem eigenen Vater angewendet, und so konnten wir uns gegenseitig vergeben. Und auch uns selbst.
Stichworte
Therapie | Soziales Panorama | Selbstwert | Resilienz | Psychologie | CoachingAdrian Schweizer
Praktiziert(e) als Offizier die Konfliktlösung mit Macht, als Rechtsanwalt mit Recht und als Mediator und Executive Coach mit Interessenausgleich. Er absolvierte seine NLP-Ausbildung bei Gründern und Aktivisten des NLP. Seit 1994 ist er Master-Trainer (Robert Dilts) und seit 2002 certified Trainer der Society of NLP. Mit Reiner Ponschab hat er verschiedene Bücher zur Mediation und zur kooperativen Konfliktlösung geschrieben und arbeitet heute als Executive Coach und Wirtschaftsmediator in Europa und Übersee. Als Dozent an in- und ausländischen Universitäten und Hochschulen lehrt er Mediation, Kommunikation und Coaching.
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