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Gefährliche Beschämungskultur
Subjektive Evaluationskriterien ermöglichen den Evaluierten mehr Selbstwertgefühl.
Es gehört zur politischen Tradition, sich mit Andersdenkenden auseinanderzusetzen. Während früher vor allem mit Argumenten gerungen wurde, um den eigenen Standpunkt zu verteidigen und den gegnerischen zu schwächen, hat sich in den letzten Jahren neben diesem argumentativen Ringen eine plakative Beschämungstaktik breit gemacht. Statt nach richtig oder falsch zu fragen und sich mit dem Andersdenkenden auseinanderzusetzen, wird der politische Gegner verunglimpft, z.B. werden Konservative als ewig gestrige Neinsagen hingestellt. Neuerdings müssen sich „Linke und Nette“ sogar gefallen lassen, als Komplizen von Gesetzesbrechern und Sozialhilfebetrügern verdächtigt zu werden. Zwar fehlt zu diesen Behauptungen jede Begründung, doch geht es offensichtlich nicht darum, die Wirklichkeit differenziert darzustellen, sondern den Gegner klein zu kriegen, indem man ihn beschämt.
Diese politische Unkultur ist zwar nicht zu rechtfertigen, aber sie nimmt geschickt eine spätmoderne Entwicklung wahr, um den Gegner dort zu treffen, wo er als stark individualisierter Mensch am meisten verwundbar ist: In seiner Identität.
Dem Andersdenkenden seine Würde nehmen
Ich erkläre mir die um sich greifende Beschämungskultur, die keineswegs auf die Politik beschränkt ist, mit einer wachsenden Verletzbarkeit durch Entwertungen. Je mehr der heutige Mensch auf sich selbst verwiesen ist und je mehr er sein Leben als Selbstunternehmung begreift und führt, desto mehr ist er auch darauf angewiesen, seinen Selbstwert vor sich oder andern unter Beweis zu stellen. Das hat zur Folge, dass ein allfälliges Scheitern weniger sozial abgefedert ist und tiefere Betroffenheit auslöst. Das Raffinement der politischen Beschämungstaktik liegt nun darin, dass den Wählern gegnerische Personen und Haltungen so präsentiert werden, dass man sich über sie erheben kann. Es geht offenbar nicht mehr wie früher darum, Sündenböcke zu schaffen, um von eigenen Schwächen abzulenken, sondern vielmehr darum, dem Andersdenkenden seine Würde zu nehmen und ihm sogar seine Urteilskraft abzusprechen, sodass man sich ihm gegenüber nicht rechtfertigen muss.
Den zugrunde liegenden Leistungsanspruch in Frage stellen
Schamlosigkeit wird heute oft als Zeichen unserer Epoche beklagt. Tatsächlich sind zahlreiche Tabus gefallen. Besitz, Geld, Körper und Macht werden ohne Scham zur Schau gestellt. Auch in Talkshows entblössen Menschen ihre Privatsphäre, als ob sie kein Schamgefühl hätten. Gleichzeitig werden die beschämten Personen in unserer Gesellschaft immer zahlreicher und immer mehr fühlen sich als Mobbing-Opfer. Aber Mobbing ist nur eine situationsspezifische Ausdrucksform von beschämt und erniedrigt werden. Selbst Burnout – das andere sozialpsychologische Schlagwort unserer Tage – geht oft mit einem Gefühl der Erniedrigung einher, auch wenn das Schamvolle der Leistungseinbusse durch die Betonung des erschöpfenden Arbeitseinsatzes verdeckt wird. Gerade die Konzeption von Burnout als Selbstüberforderung kann aber einen Betroffenen dazu verleiten, seine Problematik einzig als persönliches Versagen zu werten, selbst wenn belastende Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu seinem Leiden wesentlich beitragen haben. Damit wird die Isolierung der Betroffenen noch betont. Auch wird der zugrunde liegende Leistungsanspruch an das Individuum nicht in Frage gestellt.
Gerade in ihrer Sachlichkeit kann die Technik der Prüfung das Selbstbewusstsein vernichten
Evaluation als Teil einer neuen Beschämungskultur?
Gesellschaftliche Beschämungstendenzen zeigen sich auch in anderen Bereichen, etwa in stetigen, von Misstrauen getragenen und teilweise entblössenden Nachprüfungen im IV- und Sozialbereich. Weniger offensichtlich zeigen sich diese Tendenzen im Bildungswesen und Berufsbereich, wo Evaluationen zunehmen und immer engmaschiger werden. Das um sich greifende Evaluationswesen führt dazu, dass der Einzelne laufend von Andern beurteilt wird, aber die Konsequenzen dieser Beurteilung selber zu tragen hat. Gerade die behauptete Objektivität von Evaluationsverfahren kann für den Geprüften besonders beschämende Folgen haben, muss er sich doch für das Scheitern selbst verantwortlich machen. Der Wiener Soziologe Sighard Neckel, der Grundlegendes zu „Scham und Status“ (so sein Buchtitel) erarbeitet hat, stellt denn auch fest: „Gerade in ihrer Sachlichkeit kann die Technik der Prüfung das Selbstbewusstsein vernichten – als unbezweifelbare Instanz, die in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der Person des Kandidaten diese nur umso greller ins Licht latenter Abwertung taucht.“
Aber auch wenn jemand erkennt, dass ihm Unrecht geschieht – also z.B. eine politische Disqualifizierung, eine destruktive Abwertung am Arbeitsplatz, eine ungerechte Beurteilung in Prüfungen oder ein illoyales und demütigendes Verhalten nahe stehender Menschen vorliegt – kann die Empörung darüber die Scham nicht tilgen. Denn trotz des berechtigten Widerstandes bleibt die Erfahrung, dass die eigene Identität von der Fremdbeurteilung abhängt. Selbst die damit einhergehende Empörung zeugt davon, dass die eigene Wertschätzung sozialen Einflüssen unterliegt. Es ist deshalb irrig zu meinen, der Mensch könne sich völlig selbständig machen und von Beziehungs- und Umwelteinflüssen lösen.
Subtile Techniken um Schamfähigkeit für eigene Zwecke zu missbrauchen
Dass heute die Scham meistens negativ und als Schwäche beurteilt wird, hängt mit dem modernen Autonomie-Ideal zusammen. Scham darf nicht gezeigt werden, weil sonst zugegeben würde, dass man von Andern abhängig ist. Die Tabuisierung dieses Selbstgefühls hat weitreichende Folgen. Sie erleichtert Beschämungstaktiken, weil Betroffene ihre Scham nicht zeigen dürfen. Erniedrigungen und Demütigungen werden deshalb weniger als das behandelt, was sie sind, nämlich als subtile Techniken, die Schamfähigkeit von Mitmenschen für eigene Zwecke zu missbrauchen. Zudem werden Menschen durch die Tabuisierung von Scham daran gehindert zu erkennen, was sich wirklich ereignet. Ist doch das Schamgefühl auch ein Hinweis dafür, dass man sich schützen sollte.
Schamgefühle sind für die Selbstentwicklung von grundsätzlicher Bedeutung.
Sie haben mit Selbsterkenntnis zu tun. Die moderne Entwicklungspsychologie hat die Bedeutung der Scham für die Persönlichkeitsreifung immer besser erkannt. Sicher ist, dass Schamfähigkeit dem eigenen Narzissmus Grenzen setzt und dazu beiträgt, zwischen Idealbild und Wirklichkeit zu unterscheiden. Ich-stark ist nicht, wer sich nicht schämen kann, sondern wer „schamstark“ ist, d.h. dank empathischer Erzieher gelernt hat, Schamgefühle anzunehmen und auf ihre Botschaft zu hören.
Scham (abgeleitet vom Wortstamm „skam“ = verhüllen) und Beschämung sind Gegensätze. Sie verhalten sich zueinander wie Demut und Demütigung.
Durch übermässiges Beschämen geht die positive Potenz der Scham in isolierender oder narzisstischer Abwehr unter. Schon vor einem halben Jahrhundert stellte der Philosoph Günter Anders fest, dass der stark beschämte Mensch mit seinen heftigen Schamgefühlen nichts anfangen kann und statt seinen Privatbereich zu verbergen, häufig „in eine der Scham direkt entgegen gesetzte Attitüde" übergeht, z.B. in „die Unverschämtheit“. Günter Anders dürfte damit Recht behalten haben. Die „Schamlosigkeit“ vieler aktueller Verhaltensweisen zeugt nicht von einer Bedeutungslosigkeit der Schamgefühle, sondern von einer veränderten Einstellung zur Scham. Auch die Schamanlässe sind heute nicht weniger geworden. Was Scham auslöst, hat sich nur verschoben: von moralischem Versagen zu sozialem Statusverlust und beruflichem Abstieg, von sexuellen Tabubrüchen zu unmodischem oder unvorteilhaftem Aussehen, von Abwertungen in Gruppen zu Blossstellungen in Internet und Massenmedien.
Schamgefühle sind schützenswert
Es ist deshalb kein Zufall, dass in Psychotherapie und Pädagogik verdeckte Schamängste an Bedeutung gewinnen und Demütigungen sich als eine der häufigsten Ursachen von Depressionen erweisen. Konsequenterweise bekommt der empathische Umgang mit Scham im therapeutischen und schulischen Bereich mehr Aufmerksamkeit. Der Trend zur Beschämungskultur kann aber nur gebrochen werden, wenn weit darüber hinaus erkannt wird, dass Schamgefühle schützenswert sind und nicht beschämt werden sollten. Vor allem Kinder und Jugendliche sind ihrer Entwicklung gefährdet, wenn sie keinen hilfreichen Umgang mit ihren Gefühlen finden. Es wäre jedoch falsch, davon auszugehen, dass die Identitätsentwicklung bei Erwachsenen abgeschlossen ist und die Auseinandersetzungen mit Scham bei ihnen keine entscheidende Rolle spielt. Von etwas mehr Scham- statt Beschämungskultur würden alle profitieren. (Erschienen im Tages-Anzeiger, Zürich, 13.9.2011)
Stichworte
Softfactors | Selbstwert | Leistungsdruck | Gesellschaft | Evaluation | BeliefsProf. Dr. med. Daniel Hell
war bis Anfang 2009 Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Ordentlicher Professor für Klinische Psychiatrie der Universität Zürich. Heute ist er Leiter des Kompetenzzentrums „Depression und Angst“ an der Privatklinik Hohenegg in Meilen/ZH. Er hat sich wissenschaftlich vor allem mit Depressionen und anderen emotionalen Problemfeldern beschäftigt. Seine Sach- und Fachbücher sind teilweise in acht Sprachen übersetzt worden.
Die Schamproblematik wird im Buch „Seelenhunger – Der fühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben“, Herder, 2. Auflage 2003, ausführlich behandelt.
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